Jenny Erpenback - Aller Tage Abend (Hörbuch)

Schuster bleib bei Deinen Leisten! (ich beziehe mich auf das Hörbuch und die gebundene Fassung in der 3. Auflage von 2012, wir haben es im Rahmen des BookClubs gelesen)

 

Wer hat der Autorin nur erlaubt, das Buch selbst einzulesen? Sicher, der ein oder andere Autor ist darin gut. Jenny Erpenbeck jedenfalls kann es nicht. Ihre Stimme gibt dem ohnehin melancholischen Buch einen nahezu deprimierenden Klang. Hinzu kommt, dass sie die Stimme am Ende des Satzes hebt, statt senkt. Lernen wir das nicht schon in der Grundschule? Das Buch wird zu einer einzigen Frage....

 

Kurz zur Story:

Österreich-Ungarn (Galizien, Ukraine) im 19. Jahrhundert: Ein Kind stirbt, die Familie zerbricht an dem frühen Tod des Babys. In den nächsten Teilen des Buches überlebt das Kind, es wird gerettet, lebt weiter, die Geschichte der Familie nimmt einen anderen Lauf. Immer wieder ändert sich die Geschichte. Es zeigt, wie viel Einfluss einzelne Ereignisse auf das Leben haben.

 

Erpenbeck tut das, was wir eigentlich von Kate Atkinson in "Life after Life" erwartet hatten. Während letztere die Geschichte einfach immer wieder von vorne anfängt, sie nur länger werden lässt (das Kind stirbt gefühlt mindestens 10 mal auf den ersten 30 Seiten, immer wieder muss der Leser die gleiche Geschichte lesen), schreibt Erpenbeck die Geschichte um. Sie erzählt in fünf Büchern zunächst die Geschichte der Eltern, dann der "großen Tochter". Diese ist das Kind, das zu Beginn des Buches stirbt. Dann folgt ein Intermezzo in dem die Mutter das Kind doch retten kann. Die Geschichte setzt genau an diesem Punkt im Buch II an, wird fortgeführt, bis die "große Tochter" stirbt, diesmal wird sie durch einen Mann erschossen, er wollte eigentlich sich und sie töten, aber er überlebt. Im folgenden Intermezzo kommt es nicht zu der schicksalhaften Begegnung der Beiden und so überlebt sie.

Im folgenden Teil, Buch III, schreibt die Protagonistin Lebensläufe, sie will in die Sowjetunion eingebürgert werden, ist Mitglied der kommunistischen Partei Österreichs. Zuerst wird ihr Mann, dann sie wegen Hofverrats verhaftet. Ihre Akte durchläuft zahllose Instanzen und schließlich kommt sie, durch einen kleinen Fehler (ihr falscher Name (Deckname) lautet auf F, nicht wie in Wirklichkeit auf H) auf den falschen Stapel und wird hingerichtet. Im Intermezzo hat sie Glück, einer der Beamten legt sie diesmal auf den anderen Stapel und sie überlebt und geht nach Ostberlin.

In Buch IV stirbt sie an einem Treppensturz, sie hat einen Sohn und lebt in Berlin. Im Intermezzo passiert nichts dergleichen, es endet mit einer Unterhaltung zwischen dem Sohn und seiner Frau, die Mutter soll ins Heim, sie hat Alzheimer (seine Frau hat sich nie gut mit ihr verstanden und fürchtet, die Mutter würde sie auseinanderbringen).

 

Soweit zum Inhalt. Interessanterweise haben wir kaum über den Inhalt gesprochen. Der Stil, die Sprache und die Fehler überdeckten vollkommen das Wesentliche: die Geschichte.

 

Erpenbeck verankert ihre Geschichte mit GPS Daten in Nördlicher Breite und Östlicher Länge. Aber wer weiß schon, wo 48.20497 nördlicher Breite, 16.35231 östlicher Länge ist? Da fragt man sich, was die Autorin damit bezweckt und warum sie nicht Thenneberg in Österreich schreibt? Natürlich wirkt die Ortsangabe dadurch präziser, aber ist das notwendig? Manchmal nimmt diese Verankerung nahezu skurrile Formen an. Auf Seite 162 schreibt sie: "Während sie in die Gemeinschaftsküche hinübergeht, um sich aus dem Samowar Heißwasser für ihren Tee zu holen, kommt, weit entfernt von ihr, auf einem Stück Steppe 45.61404 Grad nördlicher Breite, 70.75195 Grad östlicher Länge, Wind auf. [...] Ein Käfer, der aus dem Nirgendwo unterwegs ist, vertreibt sich die Zeit, indem er an einem der Grashalme hinaufkriecht, und, oben angekommen, wieder umkehrt und nun mit dem Kopf nach unten seinen Weg fortsetzt. [...]" Das geht noch ca. sieben Zeilen weiter, bevor der nächste Absatz mit "Die Juden" beginnt.

Ich bin sicher, es handelt sich hierbei um eine hochliterarische Metapher, da sie sonst aber nicht mit Bildern dieser Art arbeitet, wirkt es einfach nur komisch.

 

Ihr Stil ist ostdeutsch intellektuell geprägt. Fast ein bisschen zwanghaft literarisch wirkt er auf mich. Verkrampft.

Auf S. 100 finde sich ein weiteres Beispiel, Erpenbeck streut immer wieder die Frage "Wie?" in den laufenden Text ein. Sicher sollte dies ein geschickter sprachlicher Schachzug sein, aber es wirkt nur gewollt.

 

Die Protagonisten werden nicht beim Namen genannt, "die Mutter", "das Kind", "der Mann". oder "Die Mutter, die zur Großmutter geworden war" , "Die Tochter, die jetzt die Mutter ist" etc. Das entpersonalisiert. Vermutlich soll "die Mutter" stellvertretend für alle Mütter, "die Frau" für alle Frauen stehen. Uns allen kann das Schicksal übel mitspielen und unseren Weg verändern.

Nichtsdestotrotz finde ich den Stil gewöhnungsbedürftig. Aber nicht jedes Buch muss leicht und eingängig zu lesen sein.

Die Frage ist nur: ist es ein Zeichen von Qualität, von guter Literatur, wenn ein Buch schwer lesbar ist?

 

Am Ende erhält unsere Protagonistin doch einen Namen: Frau Hofmann. Sie stirbt alzheimerkrank in einem Pflegeheim.

Bedauerlicherweise hat Erpenbeck die Gelegenheit für ein richtig gutes Ende verpasst (hier hätte, m.E. ein Lektor eingreifen müssen).

S. 258: Frau Hofmann befindet sich im imaginären Zwiegespräch mit der eigenen Mutter über den Tod.

"Du musst eines wissen, Kind, sagt die Mutter.

In Wahrheit kann man ihn mit einer Handvoll Schnee erschrecken.

Tatsächlich?, sagt Frau Hofmann erleichtert.

Aber, da fällt ihr ein, dass Mai ist."

Hier hätte sich der Kreis geschlossen, da die Mutter das Baby (der erste Tod der Protagonistin, den Erpenbeck beschreibt) zu Beginn des Buches durch eine Handvoll Schnee wiederbelebt.

Erpenbeck schreibt jedoch noch weitere 25 Seiten.

 

Ein Lektor hätte vielleicht auch die zahlreichen Fehler entdeckt.

Um hier zwei der Fehler stellvertretend zu nennen:

S. 60 "Am Abend eines dieser Tage [...]"

S. 122 "Am Sonntag, dem 26. Januar [...]"

 

Wir hatten einen der lustigsten BookClubs, den wir je hatten. Das lag aber nicht am Buch, denn es ist durchweg von einer trüben Stimmung geprägt. Keiner der Protagonisten ist jemals fröhlich. Alles in allem zeigt dieses Buch wieder einmal, dass man als Schriftsteller in Deutschland dann einen Preis bekommt, wenn man möglichst deprimierende "schwere Kost" produziert.



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