Thomas Montasser - Ein ganz besonderes Jahr

Thomas Montasser beginnt seinen Roman mit zwei Zitaten. Einmal von Valeries Mutter „Da siehst Du, dass die Wirklichkeit gegen die Literatur nicht bestehen kann.“ und von Noé (wir wissen nicht, wer das ist) „Ein Buch ist weit mehr als die Summe der Buchstaben“. In Kapitel Zwei erfahren wir, dass Valerie die Hauptprotagonistin aus dem Buch ist. So vermittelt er mit den Zitaten  gleich zu Beginn die Illusion, es handelte sich um eine wahre Geschichte.

Der Roman ist in sechszehn kleine Kapitel und einen Epilog geteilt. Jedes Kapitel beginnt mit einer Initiale, die aussieht, wie eine Taste von einer alten Schreibmaschine.

Montasser schreibt aus der Perspektive des „allwissenden Erzählers“. Er tritt in eine Art indirekte Kommunikation mit dem Leser (und den Leserinnen, ich nehme Einfachheitshalber immer die männlich Form), indem er einen Blick wie von außen beschreibt. Gleich im ersten Satz ist es, als würde man – wie in einem Film – auf das Fenster der Buchhandlung zoomen und hineinschauen. „Hätte jemand durch das Fenster geblickt, er hätte kaum mehr gesehen als den gebeugten Rücken einer mit großer Sorgfalt gekleideten älteren Dame, deren schneeweißer, etwas wirrer Dutt über der Kasse schwebte, von einer müden Deckenlampe in ein gnädiges Licht gehüllt.“ Der Autor kontrapostiert einerseits den besonderen Charme des kleinen Buchladen mit seinen Regalen volle Bücher, wo jeder Leser findet was sein Herz begehrt und dem Samowar, der steht eine heiße Tasse Tee bietet und Valerie (der Heldin des Buches), die scheinbar nüchtern und distanziert sich den wirtschaftlichen Belangen widmen will, um möglichst bald wieder zur Karriere zurückzukehren. Sie entdeckt, dass ihre Tante ein Karteikartensystem über ihre Bücher geführt hat und liest so viele Bücher, die sie immer mehr in den Bann der Buchhandlung ziehen. Eines Abends dringt sie nun zu einer Karte mit folgendem Titel vor: „Ein ganz besonderes Jahr von …“ Der geneigte Leser weiß, dass es jetzt losgeht, schließlich handelt es sich hierbei um den Titel des Buches, das er gerade selbst liest. Sie holt es sich aus dem Regal und setzt sich in den Lesesessel. „Auf dem Einband war ein Ticket abgebildet, eine Fahrkarte für eine Schiffspassage, altertümlich und verlockend. Und als sie das Buch aufschlug, war es, als nähme der Text sie auf Anhieb mit, so unvermittelt befand sie sich mitten in einer Geschichte.“ (S.37). Diese Geschichte wird der Autor seinen Lesern natürlich nicht vorenthalten und Montasser führt das Motiv „Die Geschichte in einer Geschichte“ ein. Optisch wurde der Text anders gestaltet, nämlich in einem hellen Grau gedruckt, so dass er sich von Valeries Geschichte unterscheidet. Diesmal erzählt Montasser aus der Sicht von Julia. Die Protagonistin unbestimmten Alters, beobachtet eine ihr unbekannte Frau, die „für den Bruchteil eines Augenblicks in einer Gruppe von Menschen“ verschwindet. Julia weiß nicht genau, warum sie fasziniert von dieser Frau ist und folgt ihr. Als der Frau der Schirm aus der Hand gerissen wird, folgt Julia einen Moment zu lange mit ihren Augen den Schirm und schon ist die Frau verschwunden. Julia findet einen Umschlag, den die Unbekannte verloren haben muss. Sie findet darin zwei Bahnticket für den gleichen Tag nach Paris. Sie läuft zum Bahnhof, um der Unbekannten die Tickets zu geben. Sie steigt in den Zug und sucht, findet die Dame aber nicht. Schließlich setzt sie sie auf den Platz (No.13), um zu warten. Als die Unbekannte nicht kommt und Julia entdeckt, dass das zweite Ticket nicht für eine Reise nach Paris ist (auch hier ist es der Platz No.13, der Leser erfährt nicht, welches Ziel mit diesem Ticket angefahren werden wird), beschließt sie einfach sitzen zu bleiben und nach Paris zu fahren. An dieser Stelle endet die Geschichte in der Geschichte, mitten im Satz – der Rest des Buches besteht aus weißen Seiten. Valerie hält es für ein Mängelexemplar und schaut auf die Karte ihrer Tante. Den Verlag Millefeuille kennt sie nicht, sie findet ihn auch nicht im Verlagsverzeichnis. Der Name des Autors fehlt im Buch, es gibt lediglich eine „etwas dünne“ Angabe zu seinem Leben. Schließlich wirft sie es in die Kiste mit den Papieren, mit denen sie nichts anzufangen weiß, da sie der Meinung ist, dass dieses Buch wohl nie jemand kaufen wird. Und so nimmt das Schicksal seinen Lauf

Das Buch hat bei mir sehr gemischte Gefühle ausgelöst. Einerseits hat es mir sehr gut gefallen. Montasser erwähnt viele Bücher, die ich schon gelesen habe und einige, die ich vielleicht noch lesen werde. Die Geschichte ist nett und sie ist schön rund (denn am Ende kommen die losen Fäden wieder zusammen). Andererseits ist das Erwähnen der Bücher oft reines "name dropping", was ich schade finde. Und da Montasser den allwissenden Erzähler so übermäßig betont und hervorhebt, ergibt sich eine gewisse Distanz zu Valerie. Ich finde, dass er am Ende etwas moralisierend ist. Und irgendwie stellt er es so dar, als wäre das BWL Studium etwas der Realität Fernes und Unnötiges und das Verkaufen von Büchern das echte Leben. Dass Valerie ihr Studium abbricht, nur weil es ihr in der Buchhandlung gefällt, kann ich nicht so nachvollziehen. Natürlich kann man sich innerhalb eines Jahres verändern. Aber so? von der BWL Studentin mit ausgezeichneten Noten und riesigem Karrierepotential und Ehrgeiz zu einer Aussteigerin? Ich erwarte nicht, dass Bücher realistisch sein müssen - keineswegs! Aber die Protagonisten müssen glaubwürdig sein und ihr Handeln schlüssig. Montasser hatte einen ungewöhnlichen Stil, manchmal wie aus einer anderen Zeit, was mir gut gefällt, manchmal etwas gestelzt, was mir nicht so gut gefällt. Das Ende hat mich mit einer seltsamen Leere zurückgelassen - irgendwie war es so vorhersehbar, aber das an sich ist nicht schlimm und ich denke, dass es auch nicht der Grund für diese Unzufriedenheit ist.

Es fällt mir schwer ein endgültiges Urteil zu fällen. Ich fand es schön und nett zu lesen, trotz allem, wollte ich wissen, wie es weitergeht. Man kann es sicherlich weiter empfehlen, weil die Geschichte an sich wirklich nett ist. Aufgrund der Inhaltsabgabe hatte ich aber mehr erwartet.

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